Brasiliens KI-Offensive: Autonomie um jeden Preis?
- Arian Okhovat Alavian
- vor 1 Stunde
- 10 Min. Lesezeit
Wenn ich an Brasilien denke, denke ich an zwei Bilder: die dichten Wipfel des Amazonas-Regenwaldes und die pulsierende Metropole São Paulo, in deren Straßen täglich Innovation und soziale Spannung aufeinandertreffen. Genau dort formt sich ein Land, das sich nicht mit Technologie-Import begnügen will, sondern eigene Wege in der Künstlichen Intelligenz geht.
Brasilien steht vor der Herausforderung, eine Balance zu finden zwischen technologischem Aufbruch und demokratischen Werten: In São Paulo sorgt Gesichtserkennung für mehr Sicherheit und für Kritik. Im Amazonasgebiet hilft KI beim Schutz des Waldes. Ein Land zwischen Kontrolle und Fortschritt, das sich aufmacht, seine eigene KI-Strategie zu formen. Wie weit ist Brasilien wirklich und was können andere Länder daraus lernen?

In São Paulo identifiziert ein Netz von 25.000 Kameras per Gesichtserkennung jeden Tag gesuchte Verbrecher, ohne dass ein Schuss fällt. Im Amazonasgebiet analysieren KI-Systeme Satellitenbilder, um illegale Rodungen vorherzusagen, bevor die Kettensäge ansetzt. So eindrucksvoll diese Beispiele klingen, sie werfen Fragen auf. Wie weit ist Brasilien auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz wirklich und was können andere Länder von diesem Entwicklungsland der KI lernen? Dabei geht es um Chancen undRisiken: von ambitionierten Nationalstrategien über boomende Startups bis hin zu Datenschutz und digitaler Ungleichheit.
Snapshot
Bevölkerung: ca. 213,4 Mio. (in 2025)
BIP: ~2,2 Billionen USD (größte Volkswirtschaft Lateinamerikas)
F&E-Ausgaben: ~1,19 % des BIP (vergleichsweise niedrig)
Internet-Penetration: ~88 % der Bürger nutzen das Internet (2023)
Zentrale Institution: Ministerium für Wissenschaft, Technologie und Innovation (MCTI); Nationale Datenschutzbehörde (ANPD)
Nationale KI-Strategie: “Estrategia Brasileira de Inteligência Artificial” (EBIA, 2021), überarbeitet 2024 als KI-Plan „IA para o Bem de Todos“ (“KI zum Wohle aller”)
Spannendes KI-Startup: Unico (São Paulo), Digitales ID-Unicorn (> 1 Mrd. $ Bewertung, ~800 Firmenkunden)
Brasilien, die größte Demokratie der südlichen Hemisphäre, hat bei KI einen späten Start hingelegt – holt nun aber rasant auf. Erst 2021 legte die damalige Regierung eine erste KI-Strategie (EBIA) vor, allerdings ohne Budget oder Fahrplan. Das Land investierte lange wenig in Forschung (nur gut 1 % des BIP), und Probleme wie Bildungsdefizite sowie soziale Ungleichheit hemmten die High-Tech-Entwicklung. Doch Brasilien bringt auch Stärken mit: Es verfügt über eine lebendige Tech-Community, rangiert bei Open-Data-Initiativen über dem OECD-Schnitt und hat mit dem Marco Civil (2014) früh Internet-Grundrechte verankert. Die aktuelle Regierung unter Präsident Luiz Inácio “Lula” da Silva will an diese Grundlagen anknüpfen. Nach Jahren der politischen Turbulenzen soll KI nun gezielt als Motor für Entwicklung und Inklusion dienen. Made in Brazil statt Importlösung. Am Ausgang dieser Aufholjagd hängt viel, nicht nur für Brasilien selbst, sondern als möglicher Fahrplan für andere Schwellenländer.
Vom Nachzügler zum Regelsetzer: Brasiliens KI-Governance nimmt Form an
Wer macht die Regeln? Federführend ist das MCTI, flankiert von einer neu erwachten Datenschutzbehörde (ANPD) und wissenschaftlichen Beraterstäben. Im Juli 2024 hat die Regierung eine umfassende nationale KI-Strategie vorgestellt: Unter dem Motto „KI zum Wohle aller“ sollen bis 2028 rund 23 Mrd. R$ (4 Mrd. USD) in nachhaltige, gemeinwohlorientierte KI investiert werden. Dieser Plan, erarbeitet von diversen Expertengruppen aus Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft setzt auf digitale Souveränität. “Statt auf KI aus China oder den USA zu warten, warum nicht unsere eigene entwickeln?”, begründete Lula den Vorstoß. Konkret umfasst der Plan 54 sofort zu startende Maßnahmen in Bereichen von Bildung über Gesundheit bis Umwelt. Brasilien will so einerseits Innovationen fördern, andererseits Regulierung vorantreiben: Im Windschatten der EU plant das Land ein eigenes KI-Gesetz, das KI-Systeme je nach Risiko regeln soll. Ein entsprechender Gesetzentwurf (PL 2338/2023) wurde im Dezember 2024 vom Senat verabschiedet und liegt 2025 im Abgeordnetenhaus. Darin vorgesehen sind etwa Transparenzpflichten, ein KI-Ombudsmann und drakonische Bußgelder bei Missbrauch (bis zu 50 Mio. R$). Doch die Ausgestaltung ist umkämpft: Industrieverbände warnen vor Innovationshemmnissen, während Bürgerrechtler Mindeststandards fordern. So sorgte etwa der neu eingeführte Grundsatz der “Informationsintegrität”- KI-Systeme sollen nur verlässliche Inhalte verbreiten, für heftige Debatten: Tech-Konzerne fürchteten Zensur ihrer Algorithmen, während Regierungsvertreter auf vertrauenswürdige KI pochten. “Dieser Begriff ist neu und umstritten”, erläutert Rafael Zanatta von der NGO Data Privacy Brasil, “aber Brasilien will hier Maßstäbe setzen.” Noch ist offen, wann das Gesetz kommt und wie strikt es ausfällt, doch bereits jetzt profilieren sich Behörden wie die ANPD als Hüter von Datenschutz und Ethik im KI-Zeitalter. Brasilien zeigt: Selbst im globalen Süden kann KI-Governance aktiv gestaltet werden, wenn Regierung und Zivilgesellschaft an einem Strang ziehen. Nach dem Willen Lulas soll das Land gar eine Vorreiterrolle im Globalen Süden einnehmen und die Stimme der Entwicklungs- und Schwellenländer in der weltweiten KI-Regulierung Struktur zur Geltung bringen. Die kommenden Monate werden zeigen, ob Brasilien diesen eigenen Ansprüchen gerecht wird.
São Paulo first: Wie Brasiliens Startups den KI-Boom anführen
Trotz (oder gerade wegen) mancher Verzögerungen bei Strategiepapieren boomt Brasiliens KI-Ökosystem bereits jetzt. São Paulo hat sich zum Epizentrum des lateinamerikanischen Tech-Booms entwickelt. 83 % der brasilianischen Unicorns (Milliarden-Startups) stammen von hier. Insgesamt sitzen die allermeisten der geschätzten 500 KI-Startups Lateinamerikas in Brasilien und konnten bereits rund 2 Mrd. R$ an Investitionen anziehen. Nach einer Durststrecke 2020–2022 fließen seit 2024 wieder verstärkt Venture-Capital-Gelder ins Land. Das Vertrauen kehrt zurück: Paradebeispiel ist Unico, ein auf biometrische Identität spezialisiertes Startup aus São Paulo, das 2023/24 über 338 Mio. USD an frischem Kapital einsammelte und in die Liga der “Unicorns” aufstieg. Mit seinen KI-gestützten Lösungen zur Betrugsprävention und Gesichtserkennung für über 800 Unternehmenskunden zeigt Unico, dass brasilianische Firmen im globalen Wettbewerb durchaus mithalten. Auch der Staat kurbelt den Markt an: 2024 legte die Regierung ein ehrgeiziges Halbleiter-Programm (“Brasil Semicon”) auf, um lokale Chipproduktion zu fördern. Bislang deckt Brasilien nur etwa 8 % seines Chipbedarfs selbst. Parallel treibt man den 5G-Netzausbau voran und lotet neue Technologien wie Open RANfür bessere Konnektivität in entlegenen Regionen aus.
Internationale Tech-Giganten sind längst aufmerksam: IBM betreibt gemeinsam mit der Universität São Paulo das Center for Artificial Intelligence (C4AI), das seit 2020 an fortschrittlichen KI-Lösungen, von medizinischer Bildauswertung bis portugiesischer Sprachverarbeitung, forscht. Nvidia sieht in Brasilien einen zukünftigen KI-Knotenpunkt und unterstützt Startups sowie Supercomputer-Projekte (der Großrechner Santos Dumont wurde 2023 mit Nvidia-Technologie aufgerüstet, um KI-Modelltraining zu beschleunigen). Zudem haben Cloud-Anbieter wie AWS und Google, aber auch OpenAI regionale (Rechen-)Zentren aufgebaut, was lokalen Unternehmen schnellen Zugang zu KI-Services ermöglicht.
Spezielle Standortvorteile spielt Brasilien etwa in der Agrar- und Energiewirtschaft aus: Als landwirtschaftlicher Riese investiert das Land in AgriTech. Von KI-gestützter Ertragsprognose bis zur Optimierung von Viehfutter und setzt im Energiebereich auf KI, um z.B. Wasserkraftwerke und Stromnetze effizienter zu steuern. Gleichzeitig bildet Brasilien zunehmend eigenes KI-Fachpersonal aus: Universitäten wie USP und UNICAMP bieten neue KI-Studiengänge an, und Programme wie Ciência Sem Fronteiras(Wissenschaft ohne Grenzen) brachten in den letzten Jahren eine Generation tech-affiner Talente hervor, von denen viele nun eigene Startups gründen. Der Markt ist also in Bewegung: Brasilien will sich nicht länger nur auf den Rohstoff- und Agrarexport verlassen, sondern mit KI-Wertschöpfung in die oberste Liga aufsteigen. Der Weg dahin führt über eine bessere Infrastruktur, Investitionen und clevere Nutzung der lokalen Besonderheiten, von der riesigen portugiesischsprachigen Datenbasis bis zum dringenden Bedarf an KI-Lösungen für urbane Mega-Citys und den Regenwaldschutz.
KI mit Bodenhaftung: Lösungen für Brasiliens echte Probleme
Brasiliens KI-Anwendungen sind so vielfältig wie das Land selbst. Ein Blick in den Regenwald: Im Amazonasgebiet kommt KI zum Einsatz, um die “Lunge der Welt” zu schützen. Die brasilianische Umweltorganisation Imazon hat eine Plattform namens PrevisIA entwickelt, die mithilfe von Machine Learning enorme Mengen Satellitendaten durchkämmt. Das Besondere: Sie prognostiziert, wo mit hoher Wahrscheinlichkeit als Nächstes illegal gerodet wird. Diese Früherkennung ist ein Gamechanger, Behörden können präventiv eingreifen, bevor die Kettensägen vollendete Tatsachen schaffen. “Früher konnten wir meist nur reagieren, wenn der Wald schon weg war”, erklärt Imazon-Forscher Carlos Souza, “doch wenn wir Gefahrenzonen im Voraus kennen, können wir die Abholzung verhindern”. Erste Tests sind vielversprechend und könnten das klassische Deforestation-Monitoring komplett verändern.
Tausende Kilometer südlich, in den Gerichtssälen São Paulos und Brasílias, hilft KI, die Last der Bürokratie zu stemmen. Brasilien hat mit über 70 Millionen anhängigen Gerichtsverfahren eines der überlastetsten Justizsysteme der Welt. Um dieser Klageflut Herr zu werden, experimentieren Gerichte mit KI-Assistenz: Robo-Judges filtern Routinefälle, Chatbots beantworten Bürgeranfragen, und Algorithmen priorisieren dringliche Verfahren. Bereits 140 KI-Pilotprojekte laufen an verschiedenen Gerichten des Landes. Ironischer Nebeneffekt: Mit dem Aufkommen von ChatGPT & Co. reichen Anwälte nun auch KI-generierte Klageschriften ein, was die Aktenzahl zunächst erhöht. Doch langfristig hoffen die Behörden, dass Automatisierung den gigantischen Rückstau abbaut und den Zugang der Bevölkerung zum Rechtssystem verbessert.
KI im Alltag schließlich hält ebenfalls Einzug. In São Paulo etwa testeten Kliniken virtuelle Warteschlangen: Patienten melden sich per App an und eine KI plant dynamisch die Terminreihenfolge, was Wartezeiten deutlich senken kann. Gleichzeitig analysieren KI-Systeme in Krankenhäusern radiologische Bilder, um Ärzte bei Diagnosen (z.B. der Erkennung von Tuberkulose auf Röntgenbildern) zu unterstützen. Ein Segen vor allem in ländlichen Regionen mit Ärztemangel. Im Bildungssektor kommt adaptive Lernsoftware zum Einsatz, die Schüler individuell fördert und Lehrer entlastet. So hat der Bundesstaat Ceará KI-Tools eingeführt, die gefährdete Schüler identifizieren, um Schulabbrüche frühzeitig zu verhindern (mit ermutigenden Ergebnissen).
Und nicht zuletzt Fintech: Brasiliens digitale Bankrevolution, angeführt von Unternehmen wie Nubank, basiert auf KI-Algorithmen, die Bonitäten besser einschätzen und Millionen bisher “unsichtbarer” Bürger mit Krediten und Versicherungen versorgen. Diese Anwendungsfälle zeigen: KI ist in Brasilien keine ferne Vision mehr, sondern wird bereits konkret genutzt. Auf dem Acker, im Dschungel, in Ämtern und Apps. Oft sind es praktische Lösungen für brasilianische Probleme: von der Tropenmedizin bis zur Verkehrssteuerung im Chaos der 21-Millionen-Metropole São Paulo. Gerade diese Bodenhaftung könnte anderen Ländern als Inspiration dienen.
Wenn Technologie Ungleichheit verstärkt
Wo Chancen sind, gibt es auch Risiken und Brasilien steht exemplarisch für das Spannungsfeld von Sicherheit, Datenschutz und Gleichberechtigung. Datenschutz & Überwachung: Schon heute betreiben Städte wie São Paulo oder Rio de Janeiro in großem Stil KI-gestützte Videoüberwachung. Das Projekt “Smart Sampa” etwa vernetzt in São Paulo rund 25.000 Kameras mit Gesichtserkennungssoftware, die automatisch Personen mit polizeilichen Fahndungslisten abgleicht. Die Erfolge werden stolz verkündet: über 1.000 Gesuchte hat das System in einem halben Jahr gestellt. Doch die Kehrseite alarmiert Aktivisten: “Big Brother”ist nicht mehr Fiktion, wenn mehr als ein Drittel der Bevölkerung (über 70 Mio. Menschen) potentiell von biometrischer Dauerüberwachung erfasst wird. Die Fehlerquote solcher Systeme trifft zudem nicht alle gleich: Studien zeigen, dass Gesichtserkennung bei People of Color signifikant höhere Fehlalarme produziert - in einem Beispiel lag die Fehlerquote bei schwarzen Frauen bei 34 %, gegenüber unter 1 % bei weißen Männern. Die Folgen sind real: 2023 wurde in Bahia ein unschuldiger Afro-Brasilianer verhaftet und saß 26 Tage unschuldig in U-Haft, weil eine automatische Gesichtserkennung ihn fälschlich als Straftäter markiert hatte (ein tragischer Fall, der landesweit Schlagzeilen machte). Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und lokale NGOs (Instituto Sou da Paz, Data Privacy Brasil* u.a.) schlagen Alarm und fordern teils ein Moratorium für Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. Die Debatte ähnelt jener in Europa: Wie viel Überwachung ist für öffentliche Sicherheit legitim und wo verletzt sie Grundrechte? Brasiliens Datenschutzgesetz LGPD (2018) bietet zwar schon ähnlichen Schutz wie die europäische DSGVO, doch es fehlt an spezifischen Regeln für KI-basierte Polizeitechnologien. Hier bewegt sich Brasilien in einer Grauzone.
Bias & digitale Kluft: Ein weiterer Knackpunkt ist Verzerrung und Fairness von KI. Die meisten Trainingsdaten stammen nicht aus Brasilien, oft nicht einmal aus dem portugiesischen Sprachraum. Aktivisten warnen vor algorithmischem Kolonialismus: Wenn KI-Systeme, die z.B. Kredite vergeben oder Bewerber vorsortieren, auf Vorurteilen fremder Datensätze basieren, könnten marginalisierte Gruppen benachteiligt werden. Die Regierung betont, man wolle “keine diskriminierende KI importieren” und setzt Ethikleitlinien auf Basis der UNESCO-Empfehlungen um, doch die Praxis bleibt abzuwarten. Gleichzeitig besteht im eigenen Land eine digitale Kluft: Während in Großstädten über 89 % der Menschen online sind, liegt die Quote in ländlichen Gebieten noch bei rund 76 %. Ähnliche Unterschiede zeigen sich bei Bildungsgrad und Einkommen. Die Gefahr: KI könnte bestehende Ungleichheiten verstärken, wenn z.B. nur gut Ausgebildete vom neuen Tech-Boom profitieren. Um dem gegenzusteuern, fordert Brasiliens Zivilgesellschaft Transparenz und Teilhabe. So haben NGOs erreicht, dass einige Städte den Einsatz von Gesichtserkennung vorerst gestoppt haben, bis Gesetze nachgezogen werden.
Arbeitsmarkt & Bildung: Schätzungen zufolge könnten bis 2030 rund 15–20 % der brasilianischen Jobs durch Automatisierung (teilweise) gefährdet sein, besonders im Kundendienst, in der Industrie und sogar im öffentlichen Dienst. Gewerkschaften mahnen Weiterbildungsprogramme an, damit “die KI nicht zum Job-Killer der Mittelschicht” wird. Erste Initiativen wie “AI Upgrade” (ein vom Arbeitsministerium gefördertes Upskilling-Programm) sind angelaufen. Dennoch bleibt ein Unbehagen: Brasilien hat in der Vergangenheit Technologiewellen erlebt, die wenige Gewinner und viele Verlierer hervorbrachten. Diesmal soll es anders laufen. Die zentrale Frage lautet also: Kann Brasilien KI so einsetzen, dass Sicherheit und Fortschritt gefördert werden, ohne Privatsphäre und Rechte zu opfern? Die nächsten Schritte vom KI-Gesetz bis zur konkreten Anwendung in Schulen, Gerichten und Favela-Communities werden darauf eine Antwort geben müssen.
What to Watch
KI-Gesetz vor dem Durchbruch: 2025 entscheidet das Abgeordnetenhaus über Brasiliens erstes KI-Gesetz. Beobachter fragen sich: Wird das Parlament den ambitionierten Entwurf abschwächen oder setzt Brasilien neue globale Standards?
Investitionsschub & Umsetzung: Der 4-Mrd.-“KI-für-alle”-Plan tritt in die heiße Phase. Erste Projekte von KI-Laboren an Unis bis zu KI-Pilotprogrammen in Schulen, Verwaltungen und Startups gehen an den Start. Gelingt es, die großzügig veranschlagten 23 Mrd. R$ sinnvoll zu verbauen?
KI für Klima & Weltbühne: Ende 2025 richtet Brasilien in Belém (Amazonas) die UN-Klimakonferenz COP30 aus. Dort will das Land zeigen, wie KI beim Umweltschutz hilft etwa durch Überwachung illegaler Abholzung. Gleichzeitig positioniert sich Brasilien in Gremien wie der UNO als Wortführer des Globalen Südens in Sachen KI-Governance. Die Welt schaut hin, ob diesen Worten auch Taten folgen.
Takeaways Lehren aus Brasiliens KI-Erfahrung
Brasiliens KI-Pfad lehrt zwei zentrale Lektionen.
Erstens: Ambitionierte Nationale Strategien sind auch für Schwellenländer machbar und nötig, um in der KI nicht den Anschluss zu verlieren. Brasilien zeigt, wie eine Regierung mit politischem Willen und Einbindung von Expert:innen eine Vision formulieren kann - KI als Werkzeug für inklusives Wachstum und digitale Souveränität. Andere Länder könnten sich daran ein Beispiel nehmen und eigene Stärken definieren, anstatt nur Technologien zu importieren.
Zweitens: Regulierung und Innovation müssen Hand in Hand gehen. Die Brasilianer erleben, dass Überwachungskameras oder automatische Entscheidungssysteme ohne Leitplanken Vertrauen verspielen. Deshalb versucht man, gleichzeitig KI zu fördern und zu zähmen. Ein Balanceakt, der international relevant ist. Schließlich erinnert der brasilianische Ansatz daran, dass KI kein reines Hightech-Spielzeug der Industrienationen ist: Auch eine diverse Demokratie mit sozialen Herausforderungen kann kreative, kontextgerechte KI-Lösungen hervorbringen von der Favela bis zur Forschungsfazilität. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis für andere Staaten lautet daher: KI-Politik sollte menschenzentriert sein mit dem Mut, Chancen zu ergreifen, und der Demut, Risiken offen zu adressieren. Brasilien befindet sich genau auf dieser Gratwanderung. Ob es gelingt, wird sich zeigen, aber die (KI-)Welt schaut sicherlich genau hin.
Wenn ich auf die bisherigen Stationen unserer Reihe AI Around the World blicke, wirkt Brasilien wie ein fehlendes Puzzleteil. In Südkorea dominiert Präzision und Systematik, ein Land, das KI zur Industriepolitik gemacht hat. In Saudi-Arabien steht Geld im Mittelpunkt: KI als Symbol für Macht, Fortschritt und Kontrolle. Kanada wiederum fragt sich, wie man wissenschaftliche Exzellenz endlich in wirtschaftliche Wirkung übersetzt. Neuseeland zeigt, dass Werte und Vertrauen zu echten Wettbewerbsvorteilen werden können. Und Kenia? Dass Innovation auch dann gedeihen kann, wenn Infrastruktur noch wächst, solange sie aus lokaler Notwendigkeit entsteht.
Brasilien vereint etwas von all dem und doch erzählt es eine andere Geschichte. Hier geht es nicht um Perfektion, sondern um Balance: zwischen Fortschritt und Fairness, zwischen globaler Technologie und lokaler Realität. Das Land zeigt, dass KI kein Luxusprodukt der Industrienationen sein muss, sondern Werkzeug für Entwicklung, Gerechtigkeit und Identität.
Was ich aus Brasilien mitnehme, ist vielleicht die ehrlichste Botschaft dieser Serie: Dass KI kein Rennen um Supercomputer ist, sondern eine kollektive Aufgabe wie wir Technologie in unseren gesellschaftlichen Kontext einbetten. Jedes Land, das wir besucht haben, spiegelt eine andere Antwort auf dieselbe Frage: Wozu eigentlich KI?
Und vielleicht ist genau das die Lehre aus Brasilien und aus all den Orten davor: KI wird überall ein bisschen anders gedacht, aber sie bleibt immer ein Spiegel unserer Werte. Und je mehr wir voneinander lernen, desto klarer wird, dass die Zukunft der KI nicht in einem Land entschieden wird, sondern in vielen.
AI Around the World ist eine Reihe von PANTA. In jeder Ausgabe werfen wir einen genaueren Blick auf ein Land: Wie wird Künstliche Intelligenz dort verstanden, gefördert, reguliert und genutzt? Wir erzählen Geschichten über Technologie und Gesellschaft, über politische Strategien und praktische Anwendungen. Nicht aus der Vogelperspektive, sondern aus der Nähe. Denn wer Künstliche Intelligenz wirklich ernst nimmt, muss global denken und lokal verstehen.
