Hilfe die KI kommt: Habe ich noch eine berufliche Zukunft?
- Jan Kersling

- 31. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Nov.
Eine kleine Zeitreise durch Angst, Wandel und Wirklichkeit - auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob wir und die nachfolgenden Generationen noch eine berufliche Zukunft haben, oder ob wir morgen aufgrund von KI und Automatiserungen auf der Straße sitzen.

Meine For-You-Page will mir Angst machen.
„95 Prozent der Jobs, die es heute gibt, werden in zehn Jahren verschwunden sein!“, ruft mir ein KI-Guru entgegen, während ich noch versuche, vor Schreck den Kaffee nicht über die Tastatur zu kippen. Ich erwischte mich bei dem Gedanken: Was, wenn KI irgendwann besser KI bedienen kann als ich? Dann wäre ich nicht nur Beobachter, sondern selbst Teil des Disruptionsmenüs.
Unweigerlich musste ich, in einem Versuch der Selbstbeschwichtigung, an die Generation meiner Eltern denken, die mit der Salonfähigkeit von Computern und dem Internet eine ähnliche Erfahrung gemacht haben musste.
Also begann ich zu graben: in der Vergangenheit, in der Gegenwart, und ein wenig in der Zukunft. Nicht aus Nostalgie, sondern aus Neugier. Ich wollte wissen, ob die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust diesmal berechtigt ist oder ob wir einfach wieder in eine alte Geschichte hineinstolpern.
Rückblick: Diese Panik hatten wir schon einmal
Die Angst, überflüssig zu werden, ist älter als jede Maschine.
In den 1920ern fürchteten Kutscher das Automobil, später Büroangestellte den Computer. Jede technische Welle brachte Verdrängung und zugleich „Geburt“. Ein Artikel aus dem World Economic Forum bringt es treffend auf den Punkt:
„In gewisser Weise hatten die Kutscher recht: Autos haben die Pferdekutschen tatsächlich ersetzt. Doch ihre Kinder und Enkel fanden neue und oft besser bezahlte Arbeitsplätze in all den Tätigkeiten, die durch das Auto erst notwendig oder möglich wurden: in der Automobilproduktion, der Fahrzeugreparatur, dem Reisevertrieb, der Hauszustellung, dem Massentourismus, dem Straßenbau, im Benzingeschäft und vielem mehr.“
Der amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter nannte das einst „schöpferische Zerstörung.“ Ein Prozess, der Altes verdrängt, um Neues zu ermöglichen.
Das World Economic Forum schätzt, dass 65 Prozent der Kinder von heute in Berufen arbeiten werden, die es noch gar nicht gibt. Kein Kutscher hätte je erraten, was ein UX-Designer ist, und kein Buchhalter, was Prompt Engineering bedeutet. Und doch füllen genau diese Berufe heute die Jobbörsen.
Prognosen: Wenn Modelle versuchen, die Zukunft zu verstehen
Natürlich kann niemand seriös vorhersagen, wie genau KI den Arbeitsmarkt verändern wird. Aber es gibt Versuche, es zumindest einzugrenzen.
Eloundou, Manning, Mishkin und Rock (2023) modellieren in einer Studie den potenziellen Einfluss von Large Language Models (LLMs) auf den US-Arbeitsmarkt. Ihr Ergebnis: Etwa 10 % der Aufgaben von 80 % aller Beschäftigten könnten vollständig automatisiert werden, bei 19 % sogar bis zu 50 %. Besonders betroffen sind laut den Forschenden nicht, wie früher, die geringqualifizierten, sondern zunehmend akademische Berufe.
Andere Studien wie Felten et al. (2023) oder Briggs et al. (Goldman Sachs) (2023) bestätigen diesen Wandel, weisen aber auf entscheidende Variablen hin: Die Geschwindigkeit der Adaption durch Arbeitnehmer:innen und die tatsächlichen Fähigkeiten von generativer KI im Zeitablauf bestimmen, ob und vor allem wie schnell Automatisierung und KI Arbeitsplätze ersetzten oder ergänzen.
Hinweis: wie bereits angedeutet ist die Aussagekraft der Modelle beschränkt. Die Zahlen basieren zwar auf Daten des Bureau of Labour Statistics und europäischen Arbeitszeitstatistiken, aber die Modelle enthalten eine Kombination aus vielen Schätzwerten und Faktoren (Digitalisierungsfaktor, technische Automatisierungspotentiale etc.).
Das Bundeswirtschaftsministerium wiederum stellte schon zwischen 2016 und 2018 fest, dass allein der frühe Einsatz von KI rund 48.000 neue Arbeitsplätze geschaffen hat.
Der entscheidende Punkt: KI ersetzt nicht Arbeit, sondern Aufgaben und schafft dadurch neue Formen der Beschäftigung.
Augmentation statt Automatisierung
Der Mensch bleibt Teil der Gleichung.
Fast alle Modelle gehen davon aus, dass die meisten Tätigkeiten nicht durch KI verschwinden, sondern sich verändern werden. Das Stichwort lautet: „Augmentation“ also die Erweiterung menschlicher Fähigkeiten durch Technologie.
Wenn ChatGPT mir das Formulieren abnimmt, entbindet mich das nicht von Verantwortung, im Gegenteil: Ich muss prüfen, vergleichen, interpretieren.
Das Internet hat uns Zugang zu einer Masse von Informationen gegeben; KI hilft uns diese Informationen noch schneller zu verarbeiten. Der sinnvolle kontextuelle Einsatz dieser Informationen bleibt offen und betont so die Relevanz der Menschlichkeit, des „Human-in-the-Loop“ innerhalb dieser Wertschöpfungskette.
Gegenwart: Zwischen Blackbox und Realität
Noch ist generative KI weit davon entfernt, die komplexen Transferleistungen des menschlichen Denkens zu replizieren. Auf Basis von Erfahrungswerten Annahmen zu treffen, Ansprüche an meine Antworten zu stellen und diese Antworten zu kontextuell relevanten Schlussfolgerungen zu formen ist eine zu große und vielschichtige Aufgabe für Sprachmodelle.
Das liegt nicht nur an der Rechenleistung, sondern an der Intransparenz ihrer inneren Logik. Die berühmte „Blackbox“ bleibt verschlossen: Wir wissen nicht, warum ein Modell antwortet, wie es antwortet. Forschungsfelder wie „Explainable AI“ versuchen, das zu ändern. Bislang mit begrenztem Erfolg.
Fazit: Zwischen Wiederholung und Weiterentwicklung
Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der aktuelle technologische Wandel jenen vergangener Epochen ähnelt. Auch diesmal stehen wir an einer Schwelle, an der Arbeit nicht verschwindet, sondern sich verschiebt. Die Geschichte der Industrialisierung, der Elektrifizierung und der Digitalisierung wiederholt sich, allerdings mit einem anderen Werkzeug, das nicht nur Kraft, sondern auch Sprache automatisiert.
Verlässliche Prognosen über die langfristigen Folgen bleiben Illusion. Zu viele Variablen liegen außerhalb des Berechenbaren: die Geschwindigkeit der Adaption, die gesellschaftliche Akzeptanz, der politische Rahmen. Doch der Trend deutet klar auf eine Neuverteilung von Tätigkeiten hin. Weg von rein repetitiven Aufgaben, hin zu höherwertiger, analytischer, kreativer Arbeit. „On a big scale“ entsteht wohl kein Ersatz des Menschen, sondern eine Erweiterung: Augmentation statt Automatisierung.
Damit steigen auch die Ansprüche an die Beschäftigten selbst. Wer künftig arbeitet, wird stärker kombinieren, bewerten, übertragen müssen. Diese Transferleistung, das Verbinden von Wissen, Kontext und Intuition bleibt vorerst ein zutiefst menschliches Gut. Sie positioniert uns weiterhin im Zentrum der Wertschöpfungskette.
Denn KI lernt auf Grundlage all dessen, was wir bereits geschaffen haben. Ihre Lernmodelle sind letztlich ein Spiegel unserer Sprache, unserer Kultur, unserer Entscheidungen. In diesem Sinn sind die Lerndaten die natürliche Grenze ihrer Entwicklung und zugleich der Beweis, dass Fortschritt immer auf menschlicher Erfahrung fußt.



