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Kluge Köpfe, große Pläne, viel Chaos: Wird Argentinien zur KI-Vorreiternation?

  • Autorenbild: Arian Okhovat Alavian
    Arian Okhovat Alavian
  • 29. Juni
  • 13 Min. Lesezeit

Nächster Halt unserer AI Around the World Reise: Argentinien.

Argentinien ist eines meiner absoluten Lieblingsländer und ich hatte das Glück, dort eine Zeit lang zu leben. Mich hat schon immer fasziniert, wie stark die Gegensätze sind, gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich. Und genauso widersprüchlich zeigt sich auch das Thema KI.


Auf den ersten Blick ist Argentinien kein naheliegender Kandidat für eine Führungsrolle in der globalen KI-Entwicklung. Die Wirtschaft schwankt, die öffentliche Forschungsförderung ist unsicher und gut ausgebildete Fachkräfte wandern oft ab. Aber unter der Oberfläche liegt eine Geschichte von Talent, Widerstandskraft und Ehrgeiz. Argentinien bringt einige der besten MINT-Ausbildungen in Lateinamerika hervor, kombiniert mit hoher Englischkompetenz und einer technikaffinen, kreativen Bevölkerung. Das Land ist die Heimat von Mercado Libre und über 200 Startups, davon rund 20 mit Fokus auf KI.


Und genau hier liegt das Paradox. Argentinien bildet Top-Ingenieurinnen und Datenwissenschaftler aus, aber viele verlassen das Land. Es entstehen spannende KI-Anwendungen in Fintech, Biotech und öffentlicher Verwaltung, aber die wirtschaftliche Instabilität erschwert die Skalierung. Argentinien denkt groß, träumt von Rechenzentren mit Atomstrom in Patagonien, kämpft aber im Alltag oft mit dem Zusammenhalt.


Die eigentliche Frage ist also: Kann das Potenzial von KI in Argentinien gegen die eigene Unsicherheit bestehen? Und was können wir daraus lernen, wenn es darum geht, trotz schwieriger Bedingungen innovativ zu bleiben?


Von der Forschung zur Gründerszene: So steht es um KI in Argentinien


Argentiniens Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz begann in der Wissenschaft und im öffentlichen Forschungsbereich. Die starken Universitäten des Landes, allen voran die Universität Buenos Aires und die UTN, haben schon vor Jahrzehnten erste KI-Forschungsgruppen hervorgebracht. Ein echter Meilenstein war 2015, als Buenos Aires die International Joint Conference on Artificial Intelligence ausrichtete - das erste Mal überhaupt, dass diese weltweit führende KI-Konferenz in Südamerika stattfand. Das bestätigte Argentiniens Rolle als regionales Wissenszentrum für KI, unterstützt von Institutionen wie der argentinischen KI-Vereinigung (Teil von SADIO) und einem Netzwerk von über 300 Forschungsinstituten unter dem nationalen Wissenschaftsrat CONICET.


Ende der 2010er Jahre erkannte dann auch die Regierung, wie strategisch wichtig das Thema ist. 2019 veröffentlichte sie eine nationale KI-Strategie, die einen breiten, gemeinschaftlich getragenen Entwicklungsplan skizziert. Im selben Jahr startete auch die Initiative „Innovatives Argentinien 2030“ und ein nationales KI-Innovationszentrum wurde gegründet, ein klares erstes Zeichen für den politischen Willen, das Thema voranzutreiben.


Heute zeigt sich ein widersprüchliches Bild. Einerseits gilt Argentinien als Vorreiter für Tech-Gründungen in Lateinamerika. Die erste Welle erfolgreicher Startups kam dort rund 15 Jahre früher als in Brasilien oder Mexiko, was dazu geführt hat, dass viele argentinische Techfirmen heute recht ausgereift sind und KI längst in ihre Abläufe integriert haben. Laut Global Finance hat dieses frühe Momentum Argentinien zu einer stillen Größe gemacht. Unternehmen wie Mercado Libre und Globant nutzen KI bereits in großem Stil. Von Empfehlungssystemen in Echtzeit bis zu automatischer Betrugserkennung. Mercado Libre berichtet, dass seine Machine Learning Modelle 98 Prozent aller betrügerischen oder regelwidrigen Angebote herausfiltern und dabei über 5.000 Variablen in weniger als einer Sekunde analysieren.


Durch seine vielfältige Wirtschaftsstruktur bietet Argentinien viele Einsatzfelder für KI:


  • Landwirtschaft und Biotechnologie: Agri-Tech-Startups wie Bioceres und agrarwissenschaftliche Institute nutzen KI für Erntemodelle und biotechnologische Forschung.

  • Satelliten und Raumfahrt: Unternehmen wie Satellogic setzen KI zur Analyse von Bilddaten und Erdbeobachtung ein.

  • Fintech: Eine boomende Fintech-Szene nutzt KI für Kreditbewertungen und Betrugsprävention. Argentinien liegt bei der Nutzung von Fintech-Angeboten regional vorne.

  • IT-Dienstleistungen und Software: Firmen wie Globant und Startups wie  Mutt Data exportieren KI-Lösungen weltweit. Mutt Data hat eines der fortschrittlichsten generativen KI-Systeme für Retail-Marketing in Lateinamerika entwickelt.


Andererseits ist KI in vielen Bereichen der Wirtschaft noch kaum angekommen. Umfragen zeigen, dass nur etwa jedes zehnte argentinische Unternehmen KI im Betrieb einsetzt - etwa halb so viel wie der weltweite Durchschnitt, so die Buenos Aires Times. Auch bei der Nutzung durch Einzelpersonen liegt Argentinien hinten: Nur 13 Prozent der Beschäftigten geben an, regelmäßig mit KI zu arbeiten, während der lateinamerikanische Durchschnitt bei 26 Prozent liegt. Das liegt unter anderem daran, dass viele kleine und mittlere Unternehmen nicht die Mittel haben, in neue Technologien zu investieren. In einem wirtschaftlich angespannten Umfeld stehen oft dringendere Herausforderungen im Vordergrund.


Trotzdem wächst das Bewusstsein. Staat und Privatwirtschaft reagieren mittlerweile mit Förderprogrammen und Unterstützung für Community-Initiativen. In großen Städten helfen Entwickler-Meetups wie die Argentina Data Science Meetup oder die Google Developer Groups, KI-Wissen lokal zu verbreiten. Hackathons und Veranstaltungen wie der jährliche AISummitBA oder regionale IEEE-Konferenzen halten die Talente bei der Stange.


Kurz gesagt: Argentiniens KI-Ökosystem bringt enormes Potenzial mit und verfügt über große wissenschaftliche Kompetenz, wird aber noch längst nicht voll ausgeschöpft. Es ist ein Land mit vielen Möglichkeiten, das noch die richtigen Bedingungen sucht, um dieses Potenzial auch wirklich zu entfalten.


KI im Einsatz: Wie Argentinien aus Begrenzungen Innovation macht


Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten hat Argentinien beeindruckende KI-Anwendungsbeispiele in Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung hervorgebracht. Hier sind einige besonders spannende Projekte, bei denen KI mit Kreativität und Wirkung eingesetzt wird.


Mercado Libre und die KI-gesteuerte Handelsplattform

Lateinamerikas größte E-Commerce-Plattform mit Sitz in Buenos Aires setzt stark auf KI, um Vertrauen und Personalisierung zu gewährleisten. Die Machine-Learning-Modelle übernehmen in Echtzeit die Inhaltsmoderation, indem sie Millionen von Angeboten auf Fälschungen oder verbotene Produkte prüfen. Laut dem Transparenzbericht von Mercado Libre mussten nur 0,74 Prozent der Angebote entfernt werden – dank KI-gestützter Filter, die verdächtige Anzeigen automatisch pausieren. Das Unternehmen nutzt KI außerdem für personalisierte Produktempfehlungen und dynamische Preisgestaltung. Mit hunderten Millionen Dollar, die in KI-Forschung und Entwicklung fließen, zeigt Mercado Libre, wie ein lokales Unternehmen auf Augenhöhe mit internationalen Tech-Konzernen agieren kann.


Intelligenter Verkehr und nachhaltige Städte

Auch der öffentliche Sektor setzt KI gezielt ein. Buenos Aires arbeitet etwa mit dem Google Green Light Projectzusammen, um Ampelschaltungen zu optimieren und so Staus und Emissionen zu reduzieren. Durch die KI-gestützte Anpassung der Ampelphasen auf einer Hauptverkehrsstraße konnten 14 Prozent weniger Stopps, über 2.300 Stunden eingesparte Fahrzeit und jährlich 7.000 Liter weniger Spritverbrauch erreicht werden. Die Stadt ist eine von weltweit 17 Pilotregionen – erste Daten zeigen bis zu 10 Prozent Emissionsrückgang an optimierten Kreuzungen. Eine weitere Innovation ist Boti, ein WhatsApp-Chatbot, der mithilfe von KI und Sprachverarbeitung in Echtzeit Bürgerfragen zu städtischen Dienstleistungen beantwortet und so Verwaltung greifbarer macht.


KI für das Gemeinwohl und das Gesundheitswesen

Auch die argentinische Tech-Szene bringt Lösungen im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen hervor. Das in Buenos Aires ansässige Startup Entelai entwickelt KI-gestützte Diagnosetools für die medizinische Bildgebung, die Radiologen helfen, Krankheiten wie Krebs im Frühstadium oder neurologische Auffälligkeiten schneller und präziser zu erkennen. Diese Tools werden bereits in Krankenhäusern in Argentinien und anderen Ländern Lateinamerikas eingesetzt. Im Medienbereich nutzt die Redaktion von 0221.com.ar in La Plata KI, um Interviews zu transkribieren, Tags vorzuschlagen und Inhalte zu personalisieren – was Effizienz und Leserbindung erhöht. Auch Fintechs setzen verstärkt auf KI, um finanzielle Teilhabe zu fördern. So verwendet Afluenta KI für Kreditscoring bei unterversorgten Zielgruppen und Ualá bietet über KI-Chatbots einen niederschwelligen Kundenservice.


Staatliche Projekte und KI in der Sicherheitspolitik

Die aktuelle Regierung hat neue, teils kontroverse KI-Initiativen im öffentlichen Bereich gestartet. 2024 wurde eine eigene Einheit für Künstliche Intelligenz im Bereich öffentliche Sicherheit geschaffen, die mithilfe von Datenanalysen Kriminalitätsschwerpunkte vorhersagen und Polizeieinsätze steuern soll. Auch die Stadt Buenos Aires entwickelt ein System zur Analyse historischer Kriminalitätsmuster. Solche Modelle der vorausschauenden Polizeiarbeit, die an internationale Vorbilder angelehnt sind, haben vor Ort allerdings auch Diskussionen über Wirksamkeit und Ethik ausgelöst.


Auf einer eher visionären Ebene hat Präsident Javier Milei vorgeschlagen, Argentinien als globales Zentrum für KI und Dateninfrastruktur zu positionieren. Ein besonders ambitioniertes Vorhaben ist der Bau von Rechenzentren in Patagonien, die durch kleine modulare Reaktoren mit Strom versorgt werden sollen. Diese Idee – KI-Infrastruktur kombiniert mit Atomenergie – wäre weltweit einmalig. Zwar zweifeln Kritiker an der Umsetzbarkeit und den ehrgeizigen Plänen bis 2030, doch das Projekt steht sinnbildlich für den unkonventionellen Denkansatz, den Argentinien in seiner KI-Strategie verfolgt.


Ob E-Commerce, urbane Technologien, Gesundheitsversorgung oder nationale Sicherheit – all diese Beispiele zeigen, wie Argentinien aus Notlagen und strukturellen Grenzen heraus innovative Wege geht. Ein roter Faden ist dabei die Zusammenarbeit: Startups arbeiten häufig mit öffentlichen Einrichtungen und Universitäten zusammen, um lokal angepasste Lösungen zu entwickeln. Der starke Community-Gedanke, sichtbar in Meetups, Hackathons und Entwicklertreffen, sorgt dafür, dass Fortschritt nicht im stillen Kämmerlein passiert, sondern gemeinsam entsteht. Über Open Source, Hochschulprogramme und öffentliche Debatten entsteht so ein KI-Ökosystem, das nicht nur kreativ, sondern auch gemeinschaftlich denkt.


KI Regulierung in Argentinien: Fortschritt mit Vorsicht und Gegenwind aus der Zivilgesellschaft


Argentinien arbeitet noch daran, seinen Ansatz zur Regulierung von KI zu definieren mit dem Ziel, Innovation und Kontrolle in Einklang zu bringen. Zwar gibt es bislang kein eigenes KI-Gesetz wie den EU AI Act, doch wichtige Grundlagen wurden bereits gelegt.


Die nationale KI-Strategie, die 2019 veröffentlicht wurde, stellte ethische und inklusive KI als Motor für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in den Mittelpunkt. Darauf aufbauend veröffentlichte die Regierung unverbindliche ethische Richtlinien und schloss sich der UNESCO-Empfehlung zu KI und Ethik an, womit sie sich internationalen Prinzipien wie Fairness, Transparenz und Rechenschaft verpflichtet. Im September 2024 veröffentlichte die Agentur für den Zugang zu öffentlichen Informationen (AAIP) einen Leitfaden für verantwortungsvolle KI, der sich an öffentliche wie private Akteure richtet. Er fordert mehr Transparenz und Datenschutz in allen KI-Systemen, benennt Risiken wie Verzerrungen, schlechte Datenqualität und Verletzungen der Privatsphäre und empfiehlt Maßnahmen wie Folgenabschätzungen und interdisziplinäre Kontrolle vor dem Einsatz.


Auch wenn dieser Leitfaden rechtlich nicht bindend ist, deutet er klar in Richtung formaler Regulierung. Argentinien profitiert dabei von einer vergleichsweise starken Ausgangslage: Das Gesetz zum Schutz persönlicher Daten ist seit dem Jahr 2000 in Kraft, war eines der ersten in Lateinamerika und wird von der EU als „angemessen“ anerkannt. Derzeit wird es überarbeitet, um aktuellen Herausforderungen wie Big Data und KI besser gerecht zu werden, um sich stärker an der DSGVO zu orientieren.


Die institutionellen Strukturen sind noch im Aufbau. Unter der vorherigen Regierung wurde ein Koordinierungsbüro für KI im Wissenschaftsministerium geschaffen und es wurden sektorübergreifende Gremien eingesetzt, um die Politik zu beraten. Die aktuelle Regierung unter Präsident Javier Milei setzt dagegen auf Deregulierung, um Investitionen zu fördern. 2024 wurde das Investitionsfördergesetz (RIGI) verabschiedet, das für Tech-Investitionen ab 200 Millionen Dollar dreißig Jahre lang Steuererleichterungen bietet. Diese Regelung begünstigt indirekt auch KI-Projekte und den Ausbau von Rechenzentren. Gleichzeitig erkennen die Behörden an, dass bei risikoreichen KI-Anwendungen, etwa solchen mit Auswirkungen auf Grundrechte, Schutzmechanismen notwendig sind. Argentinien ist zudem in internationalen KI-Gremien aktiv, etwa beim OECD AI Policy Observatory und der Global Partnership on AI, und signalisiert damit, dass es sich stärker an globalen Standards orientieren will, auch wenn es noch keine eigene Gesetzgebung gibt.


Vergangene Skandale haben die Debatte über KI im Land deutlich geprägt. Besonders bekannt ist der Fall aus dem Jahr 2017 in der Provinz Salta, wo die Behörden gemeinsam mit Microsoft eine KI einsetzen wollten, um Schwangerschaften bei gefährdeten Teenager-Mädchen vorherzusagen. Das Projekt scheiterte spektakulär, denn es verletzte Datenschutzrechte, stigmatisierte Jugendliche und basierte auf nicht eingeholter Zustimmung. Die heftige öffentliche Kritik machte den Fall zu einem warnenden Beispiel für sogenannten Techno-Solutionismus in der Sozialpolitik.


Ein weiterer kontroverser Fall betrifft den Einsatz von Gesichtserkennung in Buenos Aires. 2019 führte die Stadt ein KI-gestütztes System (SNRP) ein, das gesuchte Straftäter identifizieren sollte. Dabei wurde unter anderem ein Unschuldiger festgenommen, weil ihn das System mit einer Person mit ähnlichem Namen verwechselte. Später kam heraus, dass das Netzwerk aus rund 300 Kameras auch zur Überwachung von Journalistinnen, Aktivisten und Politikerinnen missbraucht wurde - ohne gerichtliche Kontrolle. Bürgerrechtsorganisationen reichten Klage ein. 2022 stoppte ein Gericht das System wegen mehrfacher Verstöße gegen Datenschutz und rechtliche Auflagen. Stand Anfang 2024 ist das System weiterhin außer Betrieb, bis ein unabhängiges Audit und strengere Kontrollmechanismen eingeführt sind (biometricupdate.com).


Diese Vorfälle haben in Argentinien eine breite gesellschaftliche Diskussion ausgelöst. Organisationen wie Amnesty International Argentinien warnen davor, dass vorausschauende Polizeiarbeit bestehende Ungleichheiten verschärfen und Bürgerrechte aushöhlen könnte. Die Regierung wiederum argumentiert, das System habe vor seiner Abschaltung mehr als 1.700 gesuchte Personen identifiziert. Inzwischen wird diskutiert, ob es ein eigenes Gesetz zur Regulierung von Gesichtserkennung und KI im Bereich der öffentlichen Sicherheit geben soll.


Auch beim Thema Haftung ist der rechtliche Rahmen noch nicht auf dem neuesten Stand. Zwar können bestehende Gesetze zu Verbraucherschutz oder Produkthaftung teilweise greifen, ein spezielles KI-Haftungsgesetz gibt es jedoch noch nicht. Die ethischen Richtlinien betonen jedoch klar die Verantwortung von Menschen. Entscheidungen durch KI müssen nachvollziehbar sein und bei kritischen Fällen muss letztlich ein Mensch die Verantwortung tragen. Die Justiz hat außerdem gezeigt, dass sie bereit ist, einzuschreiten, wie das Aussetzen der Gesichtserkennung belegt.


Zusammengefasst lässt sich sagen: Die argentinische KI-Regulierung ist vorsichtig fortschreitend. Das Land lernt aus Fehlern, führt Schritt für Schritt Schutzmaßnahmen ein und versucht ein Regelwerk zu schaffen, das Innovation fördert, ohne das Vertrauen der Öffentlichkeit zu verlieren. Oder wie ein politischer Berater es formulierte: Es geht darum, Technologie zu regulieren, ohne sie abzuwürgen. Ein schwieriger Spagat den Argentinien jedoch entschlossen zu meistern versucht.


Was kommt als Nächstes für KI in Argentinien?


Der künftige Weg Argentiniens in Sachen künstliche Intelligenz hängt davon ab, wie das Land Chancen und Herausforderungen in den nächsten Jahren bewältigt. Es gibt viel Optimismus, aber auch eine Portion Realismus.


Ambitionen und Chancen:

Die aktuelle Regierung hat erklärt, dass sie Argentinien zu einem globalen Zentrum für KI und Technologie machen will. Präsident Milei, ein Ökonom, der in die Politik gewechselt ist und für radikale Ideen bekannt ist, verweist auf die Stärken des Landes: „Wir haben alles, um eine KI-Großmacht zu werden“, sagt er und meint damit gut ausgebildete Fachkräfte und reichlich Energie. Tatsächlich ist Argentiniens Tech-Talent bekannt. Tausende hochqualifizierte Entwicklerinnen, Entwickler und KI-Forschende leben im Land, viele sprechen fließend Englisch, und Argentinien gewinnt regelmäßig Programmierwettbewerbe in der Region. Das Land hat eine starke MINT-Ausbildungstradition und verfolgt Initiativen, mit denen bis 2026 rund eine Million Menschen digitale Kompetenzen erlernen sollen.


Ein weiterer Vorteil ist Energie: Argentinien verfügt über große Erdgasvorkommen (Vaca Muerta Schieferformation) und eine lange Tradition in der Kernenergie. Mileis Team wirbt aktiv bei internationalen Tech-Konzernen, um sie zu überzeugen, Rechenzentren in Argentinien aufzubauen unterstützt durch günstige und potenziell grüne Energie. Teil des Plans ist der Einsatz sogenannter „Small Modular Reactors“ zur Versorgung dieser Zentren. Sollte das klappen, könnte Argentinien ab Anfang der 2030er-Jahre ein einzigartiges Angebot machen: verlässliche, emissionsfreie Energie in einer politisch stabilen Region wie Patagonien für KI-Systeme mit hohem Rechenbedarf.


Auch die wirtschaftspolitische Neuausrichtung, weniger Kapitalverkehrskontrollen, mehr Deregulierung, könnte ausländische Investitionen anziehen, die Argentinien zuvor wegen seiner wirtschaftlichen Instabilität gemieden haben. Unternehmen wie Salesforce haben bereits angekündigt, in den kommenden fünf Jahren 500 Millionen US-Dollar in den Ausbau ihrer argentinischen Standorte zu investieren, mit Fokus auf KI-Innovation und Personalentwicklung. Tech-Giganten wie Google, Amazon oder OpenAI stehen in engem Austausch mit der Regierung. Es wird spekuliert, dass einige von ihnen KI-Forschungszentren oder Cloud-Infrastruktur im Land aufbauen werden, um sich unabhängiger von Brasilien und Chile aufzustellen.


Auf Innovationsseite erleben argentinische Startups derzeit einen regelrechten Boom rund um generative KI. Durch den Aufstieg großer Sprachmodelle wächst das Interesse an KI-Anwendungen in spanischer Sprache. Unternehmerinnen und Unternehmer entwickeln Tools, die auf Lateinamerika zugeschnitten sind. Von juristischen KI-Assistenten bis zu landwirtschaftlichen Vorhersagemodellen. Etwa 30 Prozent der Deep-Tech-Investitionen in Lateinamerika entfallen auf Argentinien. Wachstumschancen bestehen vor allem in Bereichen wie Biotechnologie (zum Beispiel bei Medikamentenentwicklung oder Präzisionslandwirtschaft) und der Kreativwirtschaft (etwa Games und digitale Inhalte, die KI nutzen).


Ein weiterer Hoffnungsträger ist die regionale Zusammenarbeit: Argentinien arbeitet eng mit Ländern wie Uruguay und Chile an KI-Forschung und ist Teil der Latin American AI Initiative (LAIA), die an einem gemeinsamen ethischen Rahmen und Austauschprogrammen für Talente in der Region arbeitet. Diese Faktoren könnten helfen, den Rückstand bei der Nutzung von KI aufzuholen und sie langfristig breit in Wirtschaft und Gesellschaft zu verankern.


Herausforderungen und Risiken:

Doch es gibt auch Stolpersteine. Die dringendste Herausforderung ist die wirtschaftliche Instabilität und der damit verbundene Braindrain. Hyperinflation und Budgetkürzungen haben in den letzten Jahren den Forschungs- und Technologiesektor hart getroffen. 2024 verzeichnete die öffentliche Forschung die stärksten Mittelkürzungen seit Jahrzehnten – rund ein Drittel weniger im Vergleich zum Vorjahr. CONICET und andere Institute mussten massive Einschnitte hinnehmen, Gehälter für Forschende wurden deutlich gesenkt, viele wandern ab. Das führt zu einem paradoxen Effekt: Während Argentinien sich als KI-Standort positioniert, verliert es gleichzeitig sein wissenschaftliches Rückgrat. Der Abfluss von KI-Fachkräften in die USA oder nach Europa ist eine reale Bedrohung. Ohne attraktive Perspektiven wird es schwierig, das eigene Humankapital zu halten.


Ein weiteres Risiko ist die politische Unsicherheit: Auch wenn die aktuelle Regierung technologiefreundlich ist, kann sich Wirtschaftspolitik in Argentinien schnell ändern. Investoren werden womöglich abwarten, bis das Land mehr Verlässlichkeit und Rechtssicherheit beweist. Der ambitionierte Plan eines KI-Rechenzentrums mit Atomstrom in Patagonien sorgte etwa für Stirnrunzeln, da Milei gleichzeitig Mittel für bestehende Nuklearprojekte kürzte - ein widersprüchliches Signal.


Die Regulierung ist ein zweischneidiges Schwert. Je mehr KI eingesetzt wird, desto stärker wächst der Druck, Gesetze zu erlassen, die Missbrauch verhindern, etwa bei Überwachung oder Arbeitsplatzverlusten durch Automatisierung. Gesetzgeber müssen Regeln entwickeln, die Vertrauen schaffen in Sachen Datenschutz, Fairness und Beschäftigung ohne Innovation zu behindern oder Unternehmen abzuschrecken. Auch der Anschluss an internationale Standards wird entscheidend sein. Sollte der AI Act der EU oder ähnliche Vorhaben zum globalen Maßstab werden, müssen argentinische Firmen mitziehen, wenn sie KI-Produkte exportieren oder mit europäischen Daten arbeiten. Die bisherige Regulierungsfreiheit hat der Innovationsdynamik geholfen, aber Argentinien kann auf Dauer kein rechtsfreier Raum bleiben. Die richtige Balance zu finden, wird angesichts der polarisierten Politik im Land zur großen Herausforderung.


Hinzu kommt die gesellschaftliche Bereitschaft. Das Bewusstsein für Chancen und Risiken von KI wächst zwar, aber es braucht Aufklärung, um Missverständnisse zu vermeiden. Qualifizierungsprogramme für Mitarbeitende sind entscheidend, damit sie nicht ersetzt, sondern befähigt werden, mit KI zu arbeiten. Es gibt Bedenken, dass KI Ungleichheiten verschärft, wenn sie nur großen Unternehmen oder privilegierten Gruppen zugutekommt. Organisationen wie Amnesty International Argentinien oder die digitale Bürgerrechtsorganisation Fundación Vía Libre fordern deshalb ein menschenzentriertes, gerechtes KI-Modell.


Gerade das könnte Argentiniens Vorteil sein: Das Land könnte sich als Standort für ethische KI profilieren. Durch frühe Leitlinien, aktive Zivilgesellschaft und einen politischen Diskurs, der technologische Entwicklungen kritisch begleitet.


Argentiniens KI-Tango: Zwischen Talent und Turbulenz


Argentiniens KI-Reise ist eine Geschichte von Widerstandskraft, Ehrgeiz und lokaler Kreativität – und das unter schwierigen globalen Bedingungen. Sie zeigt, dass echte Innovation selbst dann entstehen kann, wenn Inflation, politische Umbrüche und knappe Budgets den Alltag bestimmen. Vorausgesetzt, Talent, Dringlichkeit und Gemeinschaft kommen zusammen.


Die größte Stärke des Landes sind seine Menschen. Gut ausgebildet, international vernetzt und geprägt durch Jahrzehnte wirtschaftlicher Unsicherheit. Sie sind die treibende Kraft hinter erstklassigen KI-Anwendungen in E-Commerce, Biotechnologie, Medien und öffentlicher Verwaltung. Argentinien zeigt, dass Innovation nicht trotz Widrigkeiten entsteht, sondern gerade durch sie.


Ein zweiter zentraler Punkt: die Kraft der Tech-Community vor Ort. Von Meetups in Buenos Aires bis hin zu Netzwerken der Diaspora wie der „Unstoppable Entrepreneurs“-Reihe in New York. Das argentinische Ökosystem lebt von Wissensaustausch, offener Zusammenarbeit und einem ungewöhnlich starken zivilgesellschaftlichen Engagement. Ein funktionierendes KI-Ökosystem braucht eben nicht nur Kapital, sondern auch Haltung und Kontext.


Auch im Bereich Regulierung bietet Argentinien wichtige Einblicke. Ob gescheiterte KI-Pilotprojekte wie das Teenager-Risikoprofiling in Salta oder das gestoppte Gesichtserkennungssystem in Buenos Aires - das Land stellt sich unbequemen Fragen zu Ethik, Privatsphäre und Diskriminierung. Was dabei auffällt, ist nicht Perfektion, sondern der Umgang mit Fehlern: Man diskutiert öffentlich, hält inne, wenn es nötig ist, und versucht, mit Transparenz zu regulieren. In einer Welt, die sich im Eiltempo Regeln gibt, ist genau das ein wertvoller Reflex.


Die Botschaft ist klar: Digitale Souveränität und KI-Kompetenz sind kein exklusives Gut der reichsten oder stabilsten Länder. Sie entstehen dort, wo es Vision gibt, Talente und den kollektiven Willen, Zukunft aktiv zu gestalten. Argentinien gehört vielleicht (noch) nicht zu den führenden KI-Nationen, aber es hat sich seinen Platz als regionale Referenz und globaler Außenseiter verdient. Irgendwo zwischen Industrie- und Schwellenländern, mit Lösungen, die aus echten Bedürfnissen entstehen.


Für uns bei PANTA ist Argentinien nicht nur ein Beispiel dafür, was möglich ist. Es ist auch eine Erinnerung daran, was auf dem Spiel steht, wenn Potenzial nicht langfristig unterstützt wird. Denn KI-Entwicklung braucht mehr als große Visionen. Sie braucht Vertrauen, Infrastruktur und politischen Willen, um dranzubleiben auch wenn der Hype schon weitergezogen ist.


AI Around the World ist eine neue Serie von PANTA. In jeder Ausgabe werfen wir einen genauen Blick auf ein Land: Wie wird KI dort verstanden, gefördert, reguliert und genutzt? Wir erzählen Geschichten über Technologie und Gesellschaft, über politische Strategien und konkrete Anwendungen. Nicht aus der Vogelperspektive, sondern ganz nah dran. Denn wer Künstliche Intelligenz ernst nimmt, muss global denken und lokal verstehen.

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